Das Abecedarium Nordmannicum

Das Abecedarium Nordmannicum ist in der Handschrift St. Gallen 878 (bzw. Codex Sangallensis 878) überliefert. Dort findet es sich am Ende der Seite 321 direkt unter einer angelsächsischen Runenreihe.

 

Als einziges Runengedicht stammt es nicht aus dem nordeuropäischen Raum. Sein genauer Ursprung ist nicht geklärt, es wird jedoch vermutet, dass es im Raum Fulda verfasst wurde, denn der Schreiber muss mit dem Fuldaer Kloster in Kontakt gestanden haben. Aufgrund paläographischer Untersuchungen (Schriftbild) kam Bischoff zu dem Schluss, dass der Autor Walahfrid Strabo (804/808-849) sein könnte; belegt ist das allerdings nicht.


Das Manuskript wird in das 9. Jahrhundert datiert, da es von einem spektakulären Erdbeben im Jahre 849 spricht. Sprachliche Formen deuten ebenfalls auf diese Zeit hin. Manche Stimmen sprechen dagegen von einer Entstehung erst vom 11. Jahrhundert.

Im Jahre 1457 ist das Manuskript erstmals im Katalog der Churer Bibliothek bezeugt, 1768 gelangte es nach St. Gallen.

In der Handschrift finden sich sehr viele unterschiedliche Themen: Grammatik, lateinische Gedichte, Komputistisches, Historisches und Medizinisches; manches davon entstammt Lehrbüchern, anderes berühmten Schriften. Es könnte erstmals als Übungsheft und später fürs Unterrichten verwendet worden sein. Das weit gestreute Interesse und der hohe Bildungsgrad des Verfassers sind in Anbetracht dieser Themen offenkundig.

Rezeption

Im Laufe der Zeit war das Abecedarium Nordmannicum schwer leserlich geworden. Nach der ersten Abschrift 1821 von Ildefons von Arx, die Wilhelm Grimm in seinem Werk Ueber deutsche Runen veröffentlichte, versuchte man 1828 die Schrift mit einem Reagens besser sichtbar zu machen. Dies funktionierte zwar kurzweilig und Ildefons von Arx fertige eine zweite Abschrift an, heute ist die Schrift dadurch jedoch völlig unleserlich geworden. Wilhelm und Jacob Grimm versuchten sich anhand der Abschrift von Ildefons von Arx an der Entzifferung und konnten so Alliterationen sowie Versstruktur nachweisen.

 

Aufgrund der chemischen Reaktion ist die heutige Forschung auf Abschriften angewiesen, die kurz nach dem Einsatz des Reagens angefertigt wurden. Diese sind von Wilhelm Grimm (1828) mit Kommentaren von Jacob Grimm, Heinrich Hattemer (1844-1849) und Paul Piper (1882).

Linguistische Untersuchungen ergaben eine Mischung aus altnordischen, altsächsischen und althochdeutschen Sprachelementen. Hierbei ist der altsächsische Einfluss minimal und könnte auch friesisch sein. Heute geht man davon aus, dass eine altnordische Fassung nach Niederdeutschland kam, dort vom Verfasser des Abecedarium Nordmannicum abgeschrieben und an lokale Sprachgegebenheiten angepasst wurde.

Der Inhalt

Das Abecedarium Nordmannicum überliefert die Runen des jüngeren Futhark, die in dieser Form beispielsweise auf dem Runenstein von Gørlev gefunden wurden. Genau genommen ist es gar kein Runengedicht, das wie die anderen Runengedichte auf die genaue Bedeutung der Runen hinweist und diese metrisch umschreibt. Eher gleicht es einem Merkgedicht, mit dessen Hilfe die Runen erlernt werden können. Dabei steht an erster Stelle immer die Rune, gefolgt von ihrem Namen und einem Wort, das mit dem Namen stabt. Unter manchen Runen sind alternative Runenzeichen angegeben.

Heute lehnt man die frühere Auffassung ab, dass im Abecedarium Nordmannicum ein "Hauch heidnischen germanischen Geistes" zu finden sei. Stattdessen geht Derolez davon aus, dass die Kenntnis über die Runen bei der skandinavischen Missionierung helfen sollte.

Die Abschrift von Wilhelm Grimm

In Wilhelm Grimms Abschrift sieht das Gedicht wie folgt aus (Runen weggelassen und mit * ersetzt, Punkte stehen für unleserliche Stellen, in eckigen Klammern nicht gesicherte Lesungen, in runden Klammern Wörter, die unter der Zeile stehen):

 

* feu forman | * ur after | * thuris thri... (stabu) | * os ist ...no (oboro) | * ratend (os uuritan)

* cha... thanne (diuet) | * hagal * nau[t] hab& | * is * ar * endi so[l]

* ... * brita * (midi) endi man | * lagu the leohto | * yr albihabe

Übersetzung (von Grimm abweichende Lesung in Klammer)

Feu als ersten Stab, ur danach, thuris als dritten Stab, os folgt ihm danach, rat am Ende geschrieben.

Danach dient chaon (Hattemer: danach cha[un]; Piper: danach klebt chaon), hagal hält naut; is, ar und sol.

[Tiu], birca und man inmitten, lagu der leuchtende, yr schließt alles ab (Piper: yr soll alles abschließen).

Abschrift von Wilhelm Grimm
Abschrift von Wilhelm Grimm

Deutung

Lautwert

 

Bemerkungen

 

 f-Rune

 

 

Der Name feu kommt höchstwahrscheinlich vom Runennamen fehu. Darunter stehen vier Runen, zu denen es unterschiedliche Lesungen gibt. Als am wahrscheinlichsten gilt "wreat", was so viel wie "er schrieb" bedeutet.

 

u-Rune

 

  

 

Ur ist in den germanischen Sprachen mehrfach belegt, wenn auch mit unterschiedlichen Bedeutungen. Da im Abecedarium Nordmannicum keine Umschreibung der Runennamen vorgenommen wurde, ist nicht sicher, welche für ur in diesem Falle zutreffen würde. Belegt sind die Bedeutung des Auerochsen und die des Nieselregens.

 

þ-Rune

 

 

 

Das Wort thuris stellt einen hapax legomenon dar, also ein einmaliges Vorkommen des Wortes in der gesamten Überlieferung. Daraus schloss man auf den Namen thurisaz zurück. Das Wort thuris geht auf das altnordische thurs (Thurse, Riese) zurück.

 

a-Rune

 

 

Der Runenname os konnte noch nicht zweifelsfrei belegt werden. Zusammen mit dem Wort oboro (der obere), das darunter steht, hält man die Bedeutung "Ase" für möglich.

 

r-Rune

 

 

 

 

 

Der Runenname rat sticht hervor, weil die Forscher darin sowohl einen angelsächsischen bzw. friesischen sowie einen althochdeutschen Einschlag aus dem Wort raid zu erkennen glauben. Das Angelsächsische oder Friesische betrifft den Vokal a, da sich dort ai zu a hätte entwickeln können. Der Konsonant t ist dagegen ein stimmloser Verschlusslaut, der auf eine althochdeutsche Form schließen lässt. Grimm und Dietrich gehen daher von einem angelsächsischen Urtext aus, der von einem hochdeutschen Schreiber kopiert wurde.

 

k-Rune

 

 

 

 

Der Name chaon lässt auf eine altisländische Herkunft schließen, da der Runenname dort kaun lautet. Im Zuge der Eindeutschung sei das k dann zu einem ch, das au zu einem ao geworden. Obwohl auch ein angelsächsischer Dialekt das k mit einem ch verschriftlicht hätte, wird diese Variante eher ausgeschlossen, da in England die k-Rune cen genannt wurde.

 

h-Rune

 

Der Runenname hagal und entspricht so allen bekannten Formen.

 

n-Rune

 

Auch der Runenname naut deutet auf die deutsche Auslautverhärtung im t hin.

 

i-Rune

 

Der Name is entspricht allen germanischen Varianten.

 

a-Rune

 

Der Runenname ár entspricht der altnordischen Form.

 

s-Rune

 

Ebenso der altnordischen Form entspricht auch sól

 

t-Rune

 

Trotz Reagens konnte der Name der t-Rune nicht entziffert werden. Man geht von tir oder tiu aus.

 

b-Rune

 

 

 

Zwar wird im Text die Form brita gezeigt, man geht allerdings davon aus, dass der Abschreiber aufgrund der Ähnlichkeit von t und c in der Schrift der karolingischen Minuskel die Buchstaben verwechselte und das r falsch einordnete. Demnach wäre der richtige Name birca.

 

m-Rune

  

Der Runenname man entspricht den anderen Quellen, sei es auf dem Kontinent oder auf den Inseln.

 

l-Rune

 

 

Das Abecedarium Nordmannicum spricht sich mit dem Runennamen lagu für die Wasser-Bedeutung der l-Rune aus (entgegen der in der Forschung diskutierten Variante der Bedeutung von Lauch).

 

R-Rune

 

 

Die letzte Rune hat den Namen ýr, also Eibe, welcher eine altnordische Wurzel hat. Man geht allerdings davon aus, dass der Schreiber des Abecedarium Nordmannicum den Lautwert der Rune nicht kannte, da er darunter die angelsächsische Rune für den Laut y aufschrieb.

Quelle

Bauer Alessia: Runengedichte. Texte, Untersuchungen und Kommentare zur gesamten Überlieferung. In: Simek, Rudolf: Studia Medievalia Septentrionalia Band 9, 2003