Skaldik 5: Das mythologische Erbe

Was also ist die Skaldik für einen Asentreuen heutiger Zeit außer eine hübsche Kunstform, für die man die Wikinger bewundern kann? Welchen Zweck hat es, sich näher mit der Skaldik zu befassen, wenn man sich in erster Linie um die Mythologie schert - und nicht um Kenningar, Versmaß und Lobpreisungen?
 
Ähnlich wie häufig unterschätzt wird, welches Wissen allein durch die Eddas überliefert wird, wird auch die Bedeutung der Skaldik vernachlässigt. Wie kaum eine andere Quelle garantiert sie den Wahrheitsgehalt von Dingen, die allein durch die Überlieferung der Eddas niemals als sicher bestimmt werden könnten. Außerdem ist sie allein der Grund, weshalb Snorri seine Edda überhaupt verfasste und uns dadurch mythologische Fragmente von unschätzbarem Wert überlieferte.

Authentizität der Strophen

Klaus von See bezeichnet die skaldischen Preislieder als wichtigste authentische Quelle der Wikingerzeit. Tatsächlich sind sie die einzigen Texte, die von den Wikingern selbst verfasst wurden. Anders als die Sagas oder auch die Eddas entstanden sie nicht einige Jahrhunderte nach der betreffenden Epoche, sondern wurden in vorchrstlicher Zeit gedichtet und dann überliefert - zuerst mündlich, später wurden sie verschriftlicht (beispielsweise in der Snorra Edda und in vielen Isländersagas). Zwar ist Ähnliches auch für die Eddalieder wahrscheinlich, bei diesen ist jedoch der christliche Einfluss und somit die „heidnische” Verlässlichkeit ungewiss. Skaldenstrophen aber sind authentisch und vor fremdem Einfluss auch nach jahrhundertelanger Überlieferung gefeit.
In den vorigen Artikeln habe ich umfassend die formalen Aspekte einer Skaldenstrophe dargelegt. Anders als bei klassischen Sonetten, bei denen lediglich ein simples Endreimschema und Silbenzählung beachtet werden müssen, ist eine Skaldenstrophe auch im Inneren des Verses strengen Regeln unterworfen. Stäbe und Binnenreime, Silbenzählung und Zäsurgesetze - all das führt dazu, dass eine erst mal verfasste Strophe nur schwerlich verändert werden kann ohne dabei diese Gesetze massiv zu verletzen. Snorri selbst erwähnt diese Tatsache in seiner Snorra Edda.
In der Sagaliteratur werden Skaldenstrophen als verbindliche Version eines Berichts verwendet, deren Wahrheitsgehalt niemand mehr anzweifeln kann. Problematisch ist hierbei höchstens, dass Skaldenlieder meist nur in Einzelstrophen überliefert und somit aus dem Zusammenhang gerissen werden. Dadurch kann sich heute vielfach eine falsche Deutung ergeben.

Skaldik als Beweis für die Verbreitung der Mythen

Vielfach hadert die Wissenschaft mit der Frage nach der Authentizität bestimmter Mythen. So ist bis heute ungeklärt, ob der Gott Bragi beispielsweise tatsächlich eine germanische Gottheit oder nicht vielmehr ein berühmter Skalde war, der in den Gottesstatus erhoben wurde.
Mythen, die in Skaldenstrophen erwähnt werden, gelten dagegen als authentisch. Da Skaldik mit Verschlüsselung und Umschreibung arbeitet, mussten die dargestellten Mythen dem Publikum sehr vertraut sein, damit die Zuhörer die Kenningar und Rätsel überhaupt lösen konnten. Damit ist zweierlei bewiesen: Erstens konnten Skalden unmöglich eine neue Mythe erfinden, da diese dem Publikum nicht bekannt gewesen und die Anspielung damit nicht verstanden worden wäre. Zweitens war die Mythologie tief in der nordischen Gesellschaft verwurzelt, da die Skaldik andernfalls nur von einer kultischen Elite verstanden worden wäre.
Diese Verschlüsselung der Mythologie ging häufig tief ins Detail - und die Kenntnis dieses profunden Wissens erwarteten die Dichter auch von ihren Zuhörern. Daraus wiederum resultiert eine starke mündliche Tradition und großes Kulturbewusstsein.

 

Nur in Ländern mit einer ungebrochenen - von fremden Anregungen zwar geförderten, aber nie von Überfremdung gefährdeten - kulturellen Entwicklung ist eine Kunstgattung denkbar, die über ein solches Reservoir von Traditionswissen verfügen kann.
(Klaus von See, Skaldendichtung)

 

Skaldenstrophen geben auch Ahnung von Mythen, die uns nicht überliefert wurden, zur damaligen Zeit aber bekannt gewesen sein mussten. Dazu gehört ein Mythos über den Gott Uller, auf den mehrmals in Kenningar angespielt wird. Der Schild wird hierbei als Ullers Schiff bezeichnet, etwa in Ullar skip, Ullar kjóll, Ullar far oder Ullar askr. Dieser Mythos ist wie gesagt nicht überliefert, sondern wurde mühsam rekonstruiert und weist erhebliche Lücken auf. Solche Fällen geben eine Ahnung davon, wie bruchstückhaft unser Wissen ohne die Hilfe präziserer Quellen wie den beiden Eddas wäre.

Die christliche Skaldik

Obgleich die Skaldik so eng mit dem Asenglauben verknüpft ist, verschwand sie nicht nach der Christianisierung. Stattdessen bedienten sich auch die christlichen Skalden weiterhin der vorchristlichen Kenningar und mitunter wurde sogar Jesus mit dem Namen eines „heidnischen” Gottes umschrieben. Bis ins 12. Jahrhundert hinein müssen diese Inhalte dem Volk also noch durchaus bekannt gewesen sein. In etwa dieser Zeit verfasste Snorri auch seine Edda, um eben diese Inhalte vor dem Vergessen zu bewahren.
Die christlichen Strophen belegen, dass die Ent-Paganisierung nicht so leicht vonstatten ging, wie manch einer vielleicht denken mag. Trotz des Absolutheitsanspruchs der christlichen Religion blieb die Alte Sitte noch einige Jahrhunderte in den Köpfen erhalten.
 
Als Beispiel einer Strophe, welche den Übergang eines Skalden von der Asentreue zum Christentum markiert, sei Hallfrøðr vandræðaskáld genannt:

 

Ǫll hefr ætt til hylli
Óðins skipat ljóðum:
algildar mank aldar
iðju várra niðja.
Enn trauðr — þvít vel Viðris
vald hugnaðisk skaldi —
legg ek á frumver Friggjar
fjón, þvít Kristi þjónum.

Jedes Geschlecht hat um die Gunst
Odins Lieder geschaffen:
ich erinnere mich des vortrefflichen Werkes
der Zeit unserer Vorfahren.
Noch zögernd — denn Viðris (Odins)
Herrschaft behagte dem Skalden wohl —
übe ich gegen den Gatten der Frigg (Odin)
Hass, denn ich diene dem Christ.

 

Übersetzt nach Klaus von See, Skaldendichtung

 


Wie gesagt werden in der christlichen Skaldik weiterhin Kenningar mit vorchristlichem Inhalt verwendet, lediglich ihre Zahl nimmt ein wenig ab. Ein weiteres Merkmal des christlichen Einflusses ist die zunehmende Aufnahme von Fremdwörtern sowie die Vereinfachung des Stils. Dies geht mit der christlichen Überzeugung der Demut einher, denn die hochkomplexen Strophen wurden als Gefallsucht interpretiert. Um der gepredigten Bescheidenheit also zu genügen, wird die Kunst vereinfacht, das sprühende Selbstbewusstsein der alten Skalden weicht christlicher Zurückhaltung.

Die Skalden

Eddische und skaldische Dichtung



Quellen

Klaus von See: Klaus von See, Skaldendichtung. Eine Einführung, Artemis & Winkler Verlag 1984

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